Im NÄHER ran-Interview: Pietro Londino

Foto: Pietro Londino

Zur Person:

Pietro Londino ist Erwachsenenbildner, geboren 1971. Er wohnt mit seiner Ehefrau und zwei Töchtern im Kanton Thurgau. Seit seinem vierten Lebensjahr ist Pietro Londino blind. Da seine Wurzeln in Italien sind, ist er perfekt zweisprachig: italienisch und deutsch / schwiezerdütsch.


NÄHER ran: Pietro, im Rahmen von Einführungs- und Sensibilisierungstagen hilfst Du der CAB immer wieder, neue freiwillige Mitarbeitende zu schulen. Was gibt Dir dieses Engagement?

Foto: Pietro Londino erklärt Umgangsweise mit Smartphone
Foto: Pietro Londino erklärt an einem Einführungs- und Sensibilisierungstag für freiwillige Mitarbeitende der CAB und Zivis wie blinde Nutzerinnen und Nutzer ein Smartphone bedienen.

Pietro Londino: Ich finde das voll spannend und wichtig. Ich kann Menschen etwas weitergeben. Menschen, die bereit sind, Blinde und Sehbehinderte zu begleiten, sei es im Rahmen von Wochen- oder Tageskursen. In diesem Bereich aus dem Vollen schöpfen zu können und Workshops mitzuleiten, Red und Antwort zu stehen und Menschen zu sensibilisieren, das finde ich etwas Zentrales und Wichtiges, und ich mache das sehr gerne. Gerade auch die Zusammenarbeit in einem tollen CAB-Team gibt mir viel Freude und Genugtuung.

NÄHER ran: Du als blinde Person, die auch schon Kurse besucht hat und auch selbst Weiterbildungskurse leitet; etwas plakativ gefragt: Was macht in Deinen Augen eine gute Begleitperson (in Kursen) aus?

Foto: Pietro Londino und Roland Gruber
Foto: Pietro Londino und CAB-Mitarbeiter Roland Gruber nach einem Schulungstag für freiwillige Mitarbeitende der CAB.

Pietro Londino: Ich drücke mich da jeweils so aus, finde aber, dass man dies nicht buchstäblich verstehen sollte: Eine gute Begleitperson ist eine, die mir folgt, wie mein Schatten. Die Begleitperson ist immer da und greift dann ein, wenn es nötig ist. Sie steht mir dann zur Verfügung, wenn ich es brauche; und ist aber so ein bisschen unscheinbar. Ich möchte das aber nicht so verstanden wissen, dass der Begleiter mein «Diener» oder mein «Gang go….» ist. Begleitpersonen sind ja schliesslich Menschen, und es kommt zu einer Interaktion und eine Beziehung entsteht. Und das macht es spannend und farbig. Nebst dem «Technischen Aspekt», dass eine Begleitperson dann eingreift, wenn es nötig ist, auch nachfrägt, wenn es Unsicherheiten gibt, ist da ja auch ein Mensch, mit dem wir Blinde und Sehbehinderte eine Beziehung aufbauen. Ich empfinde es als enorm bereichernd, wenn sich zwei Menschen treffen und ihre Geschichte teilen und sich darüber austauschen.

NÄHER ran: Hauptberuflich arbeitest Du für die Stiftung AccessAbility. Was sind dort Deine Hauptaufgaben?

Pietro Londino: Schulung von blinden PC- oder Smartphone-Nutzerinnen und -Nutzern. Mit meiner Ausbildung als Erwachsenenbildner ist dies mein «Kerngeschäft». Auch hier fasziniert mich das Zusammentreffen mit Menschen, mit denen eine Beziehung entsteht. Aber natürlich liegt der Fokus in erster Linie auf der Schulung. Ich empfinde es als wichtig, dass ich als Selbst-Betroffener etwas weitergeben kann. Das hat mit Glaubwürdigkeit zu tun: Die Menschen wissen: «Er weiss, von was er spricht». Ich erlebe die Haltung unserer Kundinnen und Kunden mir gegenüber als extrem wohlwollend, sie sind sehr bereit, das anzunehmen, was ich ihnen mitgebe. Daneben arbeite ich auch back-office (Terminvereinbarungen, Telefon-Support, Bedarfsabklärungen). Ich verfasse auch Anträge zur Kostenübernahme an die Invalidenversicherung. Aber, wie gesagt, das «Kerngeschäft» ist die Schulung von Blinden oder ganz stark Sehbehinderten am PC (mittels Sprachausgabe und / oder Braille-Zeile) und am Smartphone (v.a. mit VoiceOver und allenfalls Braille-Zeile).

NÄHER ran: Würdest Du es bei Schulungen an elektronischen Hilfsmitteln als Vorteil bezeichnen, dass Du selbst blind bist?

Pietro Londino: Ja, wie gesagt, grundsätzlich schon. Ich kann sehr gut zu Kunden sagen: «Hey, das kannst Du», und die Kunden werden nicht sagen: «Du kannst ja gut reden». Es hat aber nicht nur Vorteile: Es gibt Software, die nicht 100-prozentig gut bedienbar ist für unser eins. Da wäre es manchmal schon hilfreich, ich könnte auf dem Bildschirm besser nachvollziehen, was gerade abgeht. Oder, wenn ein Kunde immer wieder eine falsche Tastenkombination drückt, dann kann ich das ja nicht sehen, und es braucht manchmal schon etwas Phantasie, mir vorzustellen, was schiefläuft. Aber eben, in der Schulung von Betroffenen sehe ich meine Blindheit überwiegend als Vorteil.

NÄHER ran: Und gleich noch einmal etwas direkt gefragt: Digitalisierung, für Blinde, mehr Nutzen oder mehr Fluch?

Pietro Londino: Oh, das ist eine ganz schwierige Frage. Auf der einen Seite glaube ich, es ist sehr viel mehr möglich dank der Digitalisierung als noch früher. Auf der anderen Seite zeigt sie uns Sehbehinderten und Blinden immer klarer unsere Grenzen auf. Die Digitalisierung bringt in unserer Gesellschaft auch stark den Anteil mit, dass alles schneller gehen muss, mehr Informationen in kurzer Zeit zu verarbeiten sind. Wo es um Quantität geht, die wir bewältigen müssen, und das noch in einer gewissen Geschwindigkeit, da sind wir Blinde und Sehbehinderte immer benachteiligt. Aus dieser Sicht würde ich sagen, der «Fluch»-Anteil ist schon sehr gross und nicht zu unterschätzen. Aber dann kommt schon wieder die andre Seite: Dank der Digitalisierung sind wir in der Lage, ein Smartphone mittels Screenreader zu bedienen. Also, ich bin halt jemand, der lieber das halb volle als das halb leere Glas und somit den Nutzen einer Entwicklung sieht. Aber unter dem Strich muss ich doch feststellen, dass der «Fluch-Anteil» gross ist. Solange ich als Blinder mir nicht den Druck mache, ich könne mich aufgrund der Digitalisierung mit Sehenden messen, kann ich mich über den Segen der Digitalisierung freuen und ihre Vorteile nutzen. Und ich glaube: Da wird noch Einiges möglich sein in Zukunft, ich sage nur: Selbst fahrende Autos.

NÄHER ran: Wir stehen kurz vor Weihnachten. Was bedeutet Dir Weihnachten?

Foto: Pietro Londino
Portraitbild: Pietro Londino hat viele Kindheitserinnerungen an grosse Weihnachts-Familienfeste in seiner süditalienischen Heimat.

Pietro Londino: Sehr viel. Als Süditaliener erinnere ich mich gerne an Familienfeste, an richtig grosse Feste. In Süditalien wird vom 24. auf den 25. Dezember die Nacht so zu sagen durchgefeiert, angefangen mit einem üppigen Weihnachtsessen, das durchaus um 20 Uhr beginnen und bis weit in die Morgenstunden hinein dauern kann, mit Dudelsack-Einlage und so weiter…. Und heute: Für mich als bekennender und praktizierender Christ ist Weihnachten schlicht das Fest der Freude und der Liebe. Gott hat uns seinen Sohn auf diese Erde gegeben, und zwar nicht unantastbar in einem Palast, sondern für alle zugänglich in einem einfachen Stall. So dürfen wir auch heute die Liebesbotschaft von Gott an uns Menschen feiern, natürlich auch bei einem feinen Essen. Aber vielleicht, gerade in dieser festlichen Zeit, auch Zeit haben für Menschen, die allein sind. Und Geschenke, besonders auch für unsere Kinder, die gehören doch einfach auch dazu. Wo Freude und Liebe herrschen, da werden auch Geschenke gemacht. Weihnachten ist für mich auch das Fest des Lichts. Und darf ich zum Abschluss des Interviews noch ein bisschen «polemisch» werden?: Energiesparen ist natürlich wichtig, keine Frage. Aber dass in der dunklen Jahreszeit, das so wichtige Licht abgestellt wird, das kann ich nicht ganz verstehen. Ich finde: In der Dunkelheit sollen die Licher brennen, um die Menschen und ihre Gemüter zu erhellen.

NÄHER ran: Vielen Dank, Pietro, dass Du Dir die Zeit für dieses Interview genommen hast.

Pietro Londino: Ich bedanke mich herzlich bei der CAB für die Gelegenheit, dieses Interview geben zu dürfen. Ich wünsche allen Leserinnen und Lesern des Newsletters NÄHER ran freudige, liebevolle und erleuchtete Weihnachtstage.


Dieses Interview entstand in Zusammenhang mit dem CAB-Newsletter NÄHER ran.

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